VOM JAKOBSWEG UND SEINEN FOLGEN – FOLGE 1
Wie alles begann
Ich kann gar nicht genau sagen, wann ich das erste Mal vom Jakobsweg oder Pilgern hörte. Jedenfalls war es weit vor Hape Kerkeling und seinem Buch. Aber ich war ja nunmal ein eher unfitteres Geschöpf „in meinem früheren Leben“ und mein Interesse an längerer und ausdauernder Bewegung eher begrenzt. All das änderte sich 2010, rund um meinen 27. Geburtstag. Nach gut 12 Jahren hörte ich zur Überraschung aller, inklusive mir selbst, das Rauchen auf.
Nikotinfrei zur Erleuchtung
Als frisch gebackene Nichtraucherin merkte ich nun drei Dinge:
- Ich bekam wesentlich mehr Luft
- Ich bekam wesentlich mehr Appetit
- Ich fühlte mich so frei und unabhängig, wie schon lange nicht mehr
Um das Erste zu nutzen und das Zweite auszugleichen, begann ich mit dem Laufen und drehte ab und an meine Runden. Nun fühlte ich mich zwar irgendwie etwas fitter aber nicht wesentlich beweglicher. Bei jeder Hocke knarzte es, und das Dehnen nach dem Laufen fand ich mächtig überbewertet. Und am Ende blieb immer noch dieses permanente Gefühl von Kraftlosigkeit, das ich mir nicht erklären konnte.
Zu dieser Zeit bot mein damaliger Arbeitgeber Firmen-Yoga an. Ohne wirklich genau zu wissen, was mich erwartete, meldete ich mich an und …nunja, die meisten von euch wissen, was daraus geworden ist. Was die liebe Heike, meine allererste Yoga-Lehrerin, und das Yoga mit mir machten, konnte ich damals noch gar nicht wirklich greifen oder irgendwie in Worte fassen. Heute denke ich, ich bin auf einem Quadratmeter pinkem Naturkautschuk zur Zwischenerleuchtung gekommen.
Mir wurde mit jeder Yoga-Einheit mehr klar, dass ich nach meiner Kindheit die Verbindung zu mir und vor allem meinem Körper verloren hatte. Ich verstand mit jedem bewussten Atemzug mehr, dass mein Körper mir ganz oft Signale sendete, die ich jedoch nie zu deuten, geschweige denn zu behandeln, wusste.
Burnout trotz Yoga?
Eines dieser Signale waren dröhnende Kopfschmerzen, ein weiteres Magenkrämpfe, Angstzustände, depressive Phasen und zu guter Letzt Rückenschmerzen, die mich komplett bewegungsunfähig werden ließen. Signale, die sich mit jedem Meter, den ich mich meiner damaligen Arbeitsstätte näherte, verschlimmerten. Kein Urlaub half, kein Tag im Wellness-Tempel, keine Kopfschmerztablette, keine krampflösenden Mittel – jedenfalls nicht dauerhaft. Der anfangs so geliebte Job als Projektmanagerin in der Werbebranche hatte sich ganz schleichend zur täglichen Qual entwickelt. Der Druck war für mich unerträglich geworden und die Frage nach dem Sinn nahm immer mehr Raum ein.
Ende 2015 kam dann der große Knall. Mehrere Ereignisse passierten kurz hintereinander weg und eines davon riss mir förmlich den Boden unter den Füßen weg. Alles, an das ich bisher geglaubt hatte und krampfhaft versucht hatte aufrecht zu erhalten, fiel wie ein Kartenhaus zusammen.
Meine Symptome hatten mich voll im Griff und aus einer 1-wöchigen Krankschreibung meines Hausarztes wurden 38 Wochen und ein 6-wöchiger Kur-Aufenthalt. Als mir die Kur zum ersten Mal von meiner Energie-Therapeutin vorgeschlagen wurde, war der innerliche Widerstand groß. Gedanken wie „Du bist 32. Sowas brauchst du nicht!“, „Das ist was für Menschen, denen es wirklich schlecht geht.“ und „Wie kann das sein? Du machst doch so viel Yoga…!“ standen sofort parat. Heute ist mir klar, dass ich selbst da den Ernst der Lage noch nicht verstanden hatte.
Nein, Yoga konnte mich nicht vor einem Burnout schützen. Aber es konnte mir helfen, zu verstehen, dass ich endlich Verantwortung für meine eigene Gesundheit übernehmen musste.
Jedes Wachstum beginnt mit einem Samen
In den fünf bis sechs Jahren vor dieser Krise, war ich immer wieder mit dem Jakobsweg – dem Camino (de Santiago), wie er auf Spanisch heißt – in Berührung gekommen. Mal war es ein Artikel, den ich zufällig las, mal ein ganz entfernter Bekannter, der den Weg nach Santiago de Compostela in Nord-Spanien gelaufen war und von dessen Erfahrungen ich hörte. Nichts, was mich in irgendeiner Form triggerte oder veranlasste, mich weiter darüber zu informieren. Dachte ich…
In meinem Kopf und Herz war wohl damals schon ein klitzekleiner Samen gesäht, dem jedoch jegliche Grundlage und Nahrung fehlte. Vielleicht war es aber auch eine Vermutung (damals eher noch „Befürchtung“), dass der Weg eventuell Auswirkungen auf mein Leben haben könnte.
Ein Gespräch mit einem mir sehr nahe stehenden Menschen war es, welches den Samen plötzlich keimen ließ. Ganz langsam aber beständig wuchs da ein Gefühl, ein Gedanke, eine Vorstellung. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich darüber nachdachte, was ich wohl auf den Jakobsweg mitnehmen würde oder ob es dieses oder jenes Teil wohl auch in einer pilgerfreundlicheren Ausführung (also kleiner, kompakter) gab. Ich begann, meine tägliche Kosmetik zu überdenken. Auch aus ökologischen und idealistischen Gründen, aber durchaus getrieben von einer minimalistischen Grundidee.
Ich fand Gefallen an langen Spaziergängen im Bergischen Land und ließ sie zunehmend länger werden, verabredete mich mit Freunden zum Kaffee und lief dorthin, auch wenn ich dafür mehrere Solinger Täler durchqueren musste. Ich gestaltete meine Freizeit so, dass sie immer mehr Yoga und Wandern beinhaltete, weil es sich wunderbar ergänzte und einfach gut anfühlte.
Ich weitete das Outdoor-Gebiet auf die Eifel, das Allgäu und die Alpen aus und die Länge der Tagestouren auf rund 20 Kilometer. Mal war ich in Begleitung, mal alleine unterwegs. Daran, den (Ruck-)Sack zu zu machen war aber noch lange nicht zu denken.
Tausche sicheren Job gegen absolute Planlosigkeit
Der Kur-Aufenthalt, die lange Zeit zu Hause, die Wanderungen, das Yoga, die Psycho-Therapie und die regelmäßigen Energiebehandlungen brachten zutage, was ich so lange versucht hatte einfach auszuhalten. Endlich hatte ich die Zeit und den Raum, mit mir selbst in den Dialog zu gehen. Phasen des Schweigens und Meditierens wechselten sich mit Tagen voller Aktivität und Kommunikation ab. Genau das war es, was ich brauchte. Ausgeglichenheit. Die innere Einkehr zum Spüren und Verstehen, die Aktivität und Kommunikation um all dem Ausdruck zu verleihen und endlich loszulassen.
Über diesen Prozess wurde klar, was da in den vergangenen Jahren mit mir passiert war, welche Rolle ich selbst in „dem Ganzen“ spielte und warum sich in meinem Leben immer wieder Situationen und Menschen wiederholten. Das Verständnis über all diese Zusammenhänge brachte Heilung, sowohl für meinen Körper als auch meinen Geist.
Als ich die Kur-Klinik im Sommer 2016 verließ, war für mich klar, dass es kein Zurück mehr gab und nun ein neues Leben beginnen durfte. Es war zu viel passiert, ich hatte mich verändert und es fühlte sich schlichtweg nicht mehr richtig an. Und so verließ ich nach fast 15 Jahren den sicheren Büro-Job, ohne zu wissen, wie es weiter gehen würde. Ohne Projektplan. Ohne Zielvorgaben. Ohne Orga-Listen. Ohne Deadline.
Deadline. Klingt dieses Wort allein nicht schon fürchterlich??
Der Aufbruch in die Freiheit
Wenige Wochen später packte ich meinen Rucksack. Mir war gar nicht klar, was da eigentlich passierte. Es fühlte sich fantastisch und beängstigend zugleich an – und damit ziemlich interessant. Halt anders als sonst, wo ich vorher schon wusste, was ich erwarten konnte. Mein Leben lang hatte ich alles penibelst genau geplant, nicht nur bei der Arbeit. Auch in meiner Freizeit und ganz besonders bei Urlauben war es mir immer wichtig gewesen, die Kontrolle über alles zu behalten, bloß keine Überraschungen und unvorhergesehene Ereignisse aufkommen zu lassen. Dass ich mir damit selbst den Raum zum Leben und Erleben nahm wurde mir erst „auf dem Weg“ klar.
Zum ersten Mal in meinem Leben sollte ich nun also morgens nicht wissen, ob ich abends in einem warmen Bett liegen würde. Nicht wissen, wo und ob ich unterwegs mit meinem umfassenden Portugiesisch-Wortschatz (4 Worte) etwas zu essen bekam. Nicht wissen, dass man bei 32 km Tagesetappe tatsächlich keine 3-stündige Mittagspause machen sollte, wenn man noch im Hellen ankommen wollte. Und nicht wissen, dass 15 Kilo trotz Deuter Super-Lightweight-Rucksack am Ende immer noch 15 Kilo sind.
Bianca
22. Juni 2020 at 16:12Wow, was für ein wundervoller, ehrlicher Artikel. Tatsächlich erkenne ich mich an einigen Stellen wieder und kann viele deiner Worte nachvollziehen und unterschreiben.
Ich freu mich drauf im nächsten Teil zu erfahren wie es weiter ging 🙂
Evelyn
22. Juni 2020 at 16:27Danke dir, liebe Bianca! 🙂
Es geht sehr bald weiter!
Heike
22. Juni 2020 at 16:55Liebe Evelyn, es hat mich berührt deinen ersten Blog zu lesen und vor allem, dass ich einen kleinen Part eingenommen habe. Ich erinnere mich oft an deine Neugier, deine Hingabe und deine Freude in den Stunden. Und ich finde es sehr spannend, wie du deinen Weg gegangen bist. Ich werde deinen Weg auch weiter verfolgen!! Bleib bei dir, dann bist du richtig sonnige Grüße von mir, Heike
Evelyn
22. Juni 2020 at 19:51Meine liebe Heike, über deinen Kommentar freue ich mich riesig! Ich bin dir sehr dankbar für alles, was ich von dir lernen durfte und dafür, dass du mich ein langes und wichtiges Stück auf meinem Weg begleitet hast. Von Herzen! <3
Der nächste Blogartikel steht bereits in den Startlöchern 🙂